Interview mit Prof. Wolfgang Kemmler, Institut für Medizinische Physik, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
09.10.2017
Die Ganzkörper-Elektromyostimulation (WB-EMS) verspricht ein zeiteffizientes Muskeltraining, das schon bei wenigen Sitzungen pro Woche positive Effekte erzielt. Sie soll zu einem schnellen Aufbau der Muskeln und einem Abbau des Körperfetts führen. Kann WB-EMS-Training herkömmliches Kraft- und Ausdauertraining ersetzen? Und was kann es für die Prävention von Erkrankungen oder Schmerzen leisten?
Prof. Wolfgang Kemmler
Prof. Wolfgang Kemmler, der mehrere Studien über die Effekte von WB-EMS-Training durchgeführt hat, erklärt im Interview mit MEDICA.de, für welche Zielgruppe EMS-Training geeignet ist, ob es eher im Bereich Fitness oder Prävention zu verorten ist und ob es konventionelles Training ersetzen kann.
Herr Prof. Kemmler, was ist das Prinzip von Ganzkörper-Elektromyostimulation?
Prof. Wolfgang Kemmler: Beim WB-EMS wird wie beim bekannten lokalen EMS Reizstrom auf die Muskulatur appliziert. Neu beim WB-EMS: Es aktiviert nicht nur eine einzelne Stelle des Körpers, sondern kann gleichzeitig, aber mit regional unterschiedlicher Intensität, alle großen Muskelgruppen stimulieren. Insgesamt handelt es sich dabei um bis zu zwölf Körperregionen mit ungefähr 2.800 Quadratzentimeter Fläche.
Was kann EMS Ihrer Meinung nach für die Prävention von Erkrankungen oder Schmerzen leisten? Würden Sie es eher im Bereich Fitness oder im Bereich Prävention verorten?
Kemmler: EMS ist sehr vielfältig einsetzbar. Im klassischen therapeutischen Bereich wird üblicherweise die lokale Elektrostimulation eingesetzt, beispielsweise wenn es nach Kreuzbandrissen um eine Regeneration der Oberschenkelmuskulatur geht. Im präventiven Bereich wird hingegen überwiegend WB-EMS eingesetzt, insbesondere wenn es sich um systemische Erkrankungen handelt. Bei älteren Menschen ist dies zum Beispiel die sogenannte Sarkopenie, also der Muskelschwund im höheren Lebensalter. EMS oder WB-EMS kann aber auch im Fitness- oder leistungssportlichen Bereich eingesetzt werden. Im Leistungssport wird es weniger zu disziplinspezifischen Verbesserungen als eher adjuvant zur Stärkung und zum Erhalt der Rückenmuskulatur verwendet. Dies trifft beispielsweise für Läufer oder Radfahrer zu, die keine Zeit in ein präventives Training Ihrer Rückenmuskulatur investieren wollen. Insgesamt sind die Einsatzgebiete also sehr vielfältig. WB-EMS sollte dabei primär als kraftorientierte Trainingstechnologie verstanden werden, das heißt, solange die Trainingsziele nicht allzu spezifisch ausgewählt werden, kann WB-EMS als zeiteffektive Option zu einem Krafttraining betrachtet werden. Vorliegende Untersuchungen zeigen, dass der Effekt des WB-EMS auf Muskelmasse und Hypertrophie vergleichbar sind. Der Effekt auf funktionelle Fähigkeiten wie Muskelkraft oder Leistung ist aber etwas geringer.
Im Rahmen der Studie wurde die Wirkung von EMS bei Alterssarkopenie erforscht.
Sie haben eine Studie zu EMS-Training bei Sarkopenie durchgeführt. Was genau wollten Sie herausfinden?
Kemmler: Sarkopenie ist eine Erkrankung im fortgeschrittenem Alter, bei der die Muskelmasse sehr deutlich abnimmt und die Funktionalität dramatisch eingeschränkt ist. Viele Menschen können dann kein selbstständiges Leben mehr führen. Oft kommt zur Sarkopenie eine Adipositas hinzu. Diese Kombination bezeichnet man als sarcopenic obesity. Körperliches Training wäre hier eine Therapieoption, aber viele ältere Menschen, die bis zu diesem Zeitpunkt keinen Sport gemacht haben, möchten, oder können, dann nicht mehr einsteigen. Hier stellt WB-EMS eine Möglichkeit dar, ein relativ niedrigschwelliges, gelenkschonendes und individualisiertes Training durchzuführen. Schwerpunkt ist dabei der Erhalt, beziehungsweise die Verbesserung der Muskelmasse. Auch die Funktionalität der Muskeln, Kraft, Gehgeschwindigkeit und ein niedrigerer Körperfettgehalt sind zentrale Trainingsziele.
Wie genau wurde diese Studie durchgeführt?
Kemmler: Es handelt sich um eine randomisierte-kontrollierte Studie, bei der es drei Studienarme gab. In einer Gruppe erfolgte die Gabe von Vitamin D und Protein, die zweite Gruppe erhielt Protein, Vitamin D und WB-EMS und die dritte Gruppe erhielt als Kontrollgruppe ausschließlich Vitamin D. Nach 16 Wochen wurde eine Abschlussmessung ausgeführt, bei der die gleichen Größen, gemessen wurden wie zu Beginn der Studie.
Welche Ergebnisse brachte sie?
Kemmler: Eine klassische Größe für eine Sarkopenie-Erkrankung ist die schwindende Muskelmasse an Armen und Beinen. Dort gab es eine signifikante Erhöhung der Muskelmasse in der EMS&Protein- und der Protein-Gruppe. Beide Gruppen zeigten ebenfalls eine Reduktion des gesamten und abdominalen Körperfettgehaltes. Vor allem abdominales Bauchfett stellt einen erheblichen kardiometabolischen Risikofaktor dar. Kraft und Gehgeschwindigkeit nahmen nur in der kombinierten WB-EMS&Protein-Gruppe zu. Die „normale“ Gehgeschwindigkeit wird dabei als wichtige Fitnessgrösse gesehen, da sie eng mit Selbständigkeit und Mortalität verknüpft ist. Die Kontrollgruppe zeigte übrigens trotz Vitamin-D-Gabe keine Veränderungen der Körperzusammensetzung oder funktionaler Größen.
Ist EMS-Training vor allem für die Altersgruppe der Probanden geeignet, oder würden Sie es auch jüngeren Menschen empfehlen? Für wen ist dieses Training besonders interessant?
Kemmler: Menschen, die in der Lage sind, „Sport“ zu treiben, und dies gerne tun, sollen aus meiner Sicht damit weitermachen. WB-EMS kann aber zum Beispiel für Ausdauersportler mit Problemen der Haltemuskulatur, eine Option zu einem zeitraubenden Krafttraining sein. Tatsächlich ist WB-EMS ist eine sehr zeiteffiziente Technologie. Gerade für Menschen mit geringem Sportbezug oder wenig Zeit ist EMS eine gute Option zur Realisierung kraftorientierter Trainingsziele wie Muskelaufbau, Kraft, Stabilisierung, aber auch Fettreduktion. Wie beim herkömmlichen Krafttraining sind die Effekte auf die Ausdauer-leistungsfähigkeit eher gering. Ein wichtiger Aspekt ist, dass WB-EMS im Rahmen eines personal trainings also unter enger Interaktion von Trainer und Übendem praktiziert werden sollte, um Sicherheit und besonders Effektivität sicherzustellen. Der Trainierende hat so die ständige Aufmerksamkeit und Zuwendung eines Trainers, bekommt Rückmeldung und wird motiviert. Das ist sicherlich ein Schlüsselfaktor für den Trainingserfolg.
Forschen Sie an Ihrem Institut weiterhin zu EMS-Training und seinen Auswirkungen auf den Körper? Sind noch weitere Studien geplant?
Kemmler: Wir haben gerade eine Studie abgeschlossen, in der es um chronische, unspezifische Rückenschmerzen geht. Eine Gruppe, die mit WB-EMS behandelt wurde, haben wir mit einem konventionellen Rückentraining, einer Ganzkörper-Vibration und einer nicht-trainierenden Kontrollgruppe verglichen. Es zeigte sich, dass alle drei Trainings-methoden die Schmerzintensität signifikant vermindern konnten. Viele WB-EMS Einrichtungen hatten bereits mit entsprechenden Effekten geworben, belastbar belegt war es allerdings bisher nicht. Mit unserer Studie haben wir also diese Forschungslücke geschlossen.
Das Interview wurde geführt von Julia Unverzagt.
MEDICA.de